Europa im Spiegel seiner Resonanzräume

Europa im Spiegel seiner Resonanzräume

Europa steht wieder an einem jener historischen Scheidewege, die sich im Augenblick selbst gewöhnlich und im Rückblick schicksalhaft anfühlen. Die Linien, die den Kontinent heute durchziehen – politische, militärische, ökonomische, kulturelle –, sind nicht neu. Doch sie haben ihre Dichte verändert. Die Gewohnheiten einer langen Friedensordnung, die semantischen Abnutzungen eines oft beschworenen „Nie wieder“, die interne Zentrifugalkraft nationaler Politiken, all dies trifft nun auf eine Weltlage, die Europa zwingt, sich selbst anders zu sehen.

Timothy Garton Ash beschreibt in seinem Artikel „Es liegt nun an uns Europäern“ diese Lage als Mischung aus geopolitischer Bedrohung, erodierender transatlantischer Verlässlichkeit und mangelnder europäischer Willenskraft. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Wie kann ein politisches Gemeinwesen handlungsfähig werden, wenn seine strukturellen Kräfte in Entkopplung geraten und seine inneren Resonanzen verstummen?

Die Logik des Ad_Monter Meta Modells (A_MMM) bietet hierfür einen fruchtbaren Resonanzraum. Denn es erlaubt, politische Analyse nicht nur als Darstellung äußerer Konfliktlinien zu betreiben, sondern als vielschichtige Bewegung entlang der Admonter Raute – über die Felder c-it¹ (Gegenstand)c-me (Selbstklärung)c-us (Beziehung) und c-it² (Gestaltung). Europa erscheint dann nicht als abstrakter politischer Raum, sondern als ein System, das sich selbst in der Spannung zwischen Geschichte, Identität und Zukunft konstituiert.

c-it¹ – Der Gegenstand: Die Struktur eines geopolitischen Resonanzsystems

Zunächst gilt es, jenen Gegenstand präzise zu klären, der in medialen und politischen Debatten meist als moralische und emotionale Projektionsfläche benutzt wird. Der Krieg in der Ukraine und die Reaktionen Europas lassen sich im Feld c-it¹als komplexes Resonanzsystem beschreiben, in dem multiple Dynamiken gleichzeitig wirken:

  • Geopolitische Struktur: Ein revisionistisches Russland, eine unberechenbare US-Politik, ein Europa, das sich zwischen Abhängigkeit und Selbstbehauptung neu positionieren muss.
  • Ökonomische Machtfelder: Energieströme, militärische Produktionskapazitäten, eingefrorene Vermögenswerte, Handelsarchitekturen und Sanktionsmechanismen.
  • Politische Trägheitsmomente: Die Langsamkeit europäischer Institutionen, der Konflikt zwischen nationalen Interessen und kollektivem Handlungsbedarf.
  • Narrative Kräftefelder: Das Bild russischer Unbesiegbarkeit, die europäische Friedensnarration, die amerikanische Idee geopolitischer Deals.

Garton Ash beschreibt diese Elemente scharf, aber er deutet bereits an, was systemtheoretisch wesentlich ist: Die eigentliche Machtfrage liegt nicht primär im Militärischen, sondern in der Fähigkeit zur Kohärenz.

Europa ist materiell in der Lage, den Ausgang des Konflikts entscheidend zu beeinflussen, doch die strukturelle Vielstimmigkeit macht es schwer, diese Fähigkeit zu koordinieren. In A_MMM-Sprache: Der Gegenstand ist nicht der Krieg, sondern ein System an Kanten, die Europas Handlungsfähigkeit begrenzen oder erweitern können – strukturelle Kopplungen nach außen und innerhalb des eigenen politischen Systems.

Die Klarheit dieses Gegenstandes ist entscheidend. Denn nur aus einer präzisen Diagnostik heraus wird sichtbar, wo die Engpässe liegen: nicht an Ressourcen, sondern an der Fähigkeit, diese Ressourcen in eine konsistente politische Linie zu bringen.

c-me – Selbstklärung Europas: Wer wollen wir sein, wenn die Welt uns anders adressiert?

Im zweiten Feld des A_MMM, dem Feld der Selbstklärung, verschiebt sich die Frage. Sie lautet nicht mehr: Was ist die Lage?
Sondern: Was macht diese Lage mit uns – und was zeigt sie über uns?

Garton Ash spricht vom „Pessimismus des Intellekts“ und dem „Optimismus des Willens“. Doch dieser Gegensatz verweist auf eine tiefere Frage: Welche inneren Erzählungen begrenzen oder ermächtigen Europas Fähigkeit zu strategischem Handeln?

Hier lohnt es, typische europäische Selbstbilder als Resonanzphänomene zu betrachten:

1. Die Erzählung des Friedenskontinents

Europa sieht sich selbst – nicht zu Unrecht – als historisch geläutert, als Raum der Normen, der gemeinsamen Werte. Doch diese Selbstdeutung hat eine Kehrseite: Sie erzeugt eine strategische Blindheit gegenüber Gewalt, weil Gewalt immer als Störung eines moralisch imaginierten Normalzustands erscheint.

Diese Blindheit ist kein Versagen, sondern ein Ergebnis kollektiver Selbstverständigung nach 1945. Doch sie wird jetzt herausgefordert.

2. Die Erzählung der Abhängigkeit

Achtzig Jahre US-geprägter Sicherheitspolitik haben, wie Garton Ash schreibt, eine Art „erlernte Hilflosigkeit“ hervorgebracht. Nicht im Sinne von Infantilität, sondern im Sinne einer externalisierten Sicherheitsverantwortung.

Diese Abhängigkeit wirkt wie ein unbewusster Anker: Sie hält Europa stabil – und gleichzeitig handlungsarm.

3. Die Erzählung der nationalen Innenorientierung

Viele europäische Staaten sind in politischen Kämpfen gefangen, die die Stabilität des Sozialstaats, Rentenfragen oder parteipolitische Rivalitäten betreffen. Solche innenpolitischen Resonanzen überlagern die Fähigkeit, geopolitische Wirklichkeiten zu sehen.

Selbstklärung bedeutet hier: Europa handelt nicht, weil es sich innerlich nicht als handelnde Einheit versteht.

4. Die Erzählung der moralischen Überlegenheit

Europa neigt – historisch verständlich – dazu, seine normative Kraft als politische Kraft zu lesen. Doch normative Kraft ersetzt keine Machtprojektion.

Das A_MMM würde hier von einem Verschieben der Resonanzebenen sprechen: Moralische Resonanz ist nicht gleich struktureller Wirksamkeit.


A_MMM-Vertiefung: Selbstklärung als politische Kompetenz

Europa bräuchte – im Sinne des A_MMM – eine systemische Selbstklärung, die sich nicht an Schuld oder Pathos orientiert, sondern an einer schlichten Frage:

Wer sind wir als politischer Akteur – und was sind wir bereit zu schützen?

Diese Frage ist nicht militärisch, sondern zivilisatorisch.
Sie führt zur Einsicht:

Europa muss seine Handlungsfähigkeit nicht neu erfinden, sondern neu erkennen.

Selbstklärung heißt: Die eigenen inneren Ambivalenzen sehen, ohne sie als Defizit oder Versagen zu interpretieren. Genau hier läge das pädagogische Moment einer A_MMM-Lehrsequenz: Die Studierenden lernen, politische Systeme nicht als Maschinen, sondern als Resonanzkörper zu verstehen, deren Handlungskraft aus Klarheit, nicht aus Kraftmeierei entsteht.

c-us – Europa als Beziehungsraum: Die Fähigkeit zur Kohärenz

Das dritte Feld des A_MMM, c-us, führt zur entscheidenden Frage:

Wie entsteht gemeinsames Handeln in einem pluralen System?

Garton Ash spricht hier von nationalen Egoismen, bürokratischen Verlangsamungen, politischer Zentrifugalkraft. Doch diese Beschreibung bleibt notwendigerweise auf der Ebene der Dysfunktion. Das A_MMM bietet einen anderen Blick:

1. Europa ist ein Beziehungssystem, kein Akteur

Es handelt nicht trotz seiner Vielfalt, sondern durch sie hindurch.
Beziehungen sind nicht Defekte, sondern Strukturen.

2. Gemeinsamer Wille entsteht nicht durch Appell, sondern durch Resonanz

Eine politische Gemeinschaft entwickelt Kohärenz nicht, weil man sie fordert, sondern weil eine geteilte Zukunft sichtbar wird.

Medienanalyse wäre hier zentral:
Welche Erzählungen dominieren den europäischen Diskurs?
Erzählungen der Gefahr? Der Erschöpfung? Des moralischen Appells?
Oder Erzählungen gemeinsamer Gestaltungskraft?

Garton Ash appelliert an Willenskraft.
Das A_MMM ergänzt:
Willenskraft ist ein relationales Phänomen.
Sie entsteht dort, wo Menschen – oder Staaten – sich gegenseitig als Teil einer gemeinsamen Bewegung erkennen.

3. Europa fehlt keine Moral, sondern ein gemeinsamer Horizont

Eine A_MMM-Perspektive würde Europa nicht zur moralischen Einigkeit rufen, sondern zu einer kooperativen Selbstwirksamkeit:

  • Welche gemeinsamen Interessen verbinden uns?
  • Welche Zukunft wollen wir sichern?
  • Wie klingt die Erzählung Europas, wenn wir sie nicht aus Angst, sondern aus Gestaltung lesen?

Damit wird c-us zum eigentlichen Schlüssel:
Ein politisches System ist dann handlungsfähig, wenn seine Beziehungen kohärente Resonanzlinien bilden.

c-it² – Gestaltung: Die Zukunft als europäische Praxis

Der vierte Quadrant des A_MMM führt aus der Analyse heraus in den Gestaltungsraum. Er fragt:

Wie wird aus politischer Selbstklärung konkrete Handlung?

Garton Ash endet mit einem Appell an Mut und Entschlossenheit. Doch das A_MMM würde diesen Appell nicht normativ, sondern gestaltorientiert lesen.

Gestaltung bedeutet hier:

1. Architektur der Handlungsfähigkeit

Europa bräuchte institutionelle Formate, die die Kanten des Systems nicht überwinden, sondern produktiv nutzen:

  • flexible Koalitionen verschiedener Geschwindigkeiten
  • gemeinsame Beschaffungssysteme
  • europäische Infrastruktur für militärische und zivile Resilienz
  • autonome Entscheidungspfade für sicherheitspolitische Krisen

Dies ist nicht die Überwindung des Nationalstaats, sondern seine Einbettung in strukturelle Kooperation.

2. Resonanzfähige Zukunftsnarrative

Eine politische Gemeinschaft handelt kraftvoll, wenn sie weiß, wofür.
Europa benötigt kein Pathos, aber eine Vorstellung von Zukunft, die nicht technokratisch ist:

  • eine Zukunft gemeinsamer Sicherheit
  • eine Zukunft politischer Selbstbestimmung
  • eine Zukunft, in der Vielfalt nicht Hindernis, sondern Ressource ist

3. Transformation statt Reaktion

Garton Ashs Szenario eines „stählernen Stachelschweins“ der Ukraine lädt zu einer tieferen Frage ein:
Wie sieht europäische Resilienz im 21. Jahrhundert aus?

Im A_MMM wäre dies eine Frage der Gestaltungsresonanz:
Wie verknüpfen wir Struktur, Beziehung und Selbstklärung so, dass daraus eine wirkliche Handlungskultur entsteht?

Governance, Politik, Medien – ein integrativer Lernraum

Eine A_MMM-Lehrsequenz könnte aus diesem Essay folgende Lernziele entwickeln:

1. Governance verstehen

Governance ist nicht Verwaltung, sondern die Fähigkeit eines Systems, sich selbst in Bewegung zu setzen.
Europa zeigt exemplarisch, wie schwierig das ist – und wie möglich.

2. Politik als Resonanzsystem begreifen

Politik ist nicht Kampf um Macht, sondern Arbeit an Resonanzen:
zwischen Staaten, Identitäten, inneren Narrativen und äußeren Herausforderungen.

3. Medienanalyse als Zukunftsarbeit

Medien bilden nicht „Meinung“ ab, sondern strukturieren die Horizonte, in denen politische Handlungen möglich werden.
Die Frage ist:
Welche Geschichte erzählt Europa über sich selbst – und welche müsste es erzählen?

Conclusio

Ein Kontinent wird nicht durch Bedrohung geeint,
sondern durch den Klang seiner eigenen Möglichkeit.
Vielleicht liegt Europas Zukunft nicht im Mut der Stärke,
sondern in der Stärke der Klarheit –
einer Klarheit, die den Willen nicht fordert,
sondern ihn hervorbringt.

Der gedankliche Ausgangspunkt dieses Essays war ein Gastbeitrag von Timothy Garton Ash in der Süddeutschen Zeitung („Es liegt nun an uns Europäern“https://www.sueddeutsche.de/kultur/timothy-garton-ash-ukraine-putin-eu-gastbeitrag-li.3348719).
Die hier entwickelte Perspektive verortet diesen Impuls jedoch im Feld der Admonter Raute – als Einladung zu europäischer Selbstklärung, Beziehung und Gestaltung.